Gemeinsam gruseln wie im Kino. Nur dass diesmal die Geschichten wahr sind.
True Crime boomt. Auch Führungen durch die Ecken Hamburgs, in denen Menschen ermordet wurden, gehören dazu. Während um die Teilnehmer herum die Realität nonstop weiterläuft, können sie sich in der Gruppe sicher fühlen.
Am Hamburger Berg, mitten in St. Pauli, behauptet sich seit 1952 der Elbschlosskeller. Diese Langlebigkeit teilt er nicht mit dem gesamten Personal. Erst im Februar wurde hier der Türsteher Lars K. von einem Mann mit einem metallenen Mülleimer angegriffen und schwer am Kopf verletzt. Er landete mit einem gespaltenen Schädel auf der Intensivstation. Elf Tage später war er tot. Ein Foto des Mannes, über dem Eingang der Kneipe, erinnert an die Tat.
„Man redet nicht drüber. Ist Kiezsache“, sagt eine Blonde, die an einem Montagabend im Oktober mit einem Bier vor der Bar steht. Der Elbschlosskeller: rund um die Uhr, täglich geöffnet und in den Medien als härteste Kneipe der Stadt bekannt.
Fünf Stufen tiefer, im Souterrain, zaubert eine Diskokugel Sterne in die orangefarbene Luft. Die Sitznischen sind aus Holz, ohne Kissen oder Bezüge. Dunkle, schwere Vorhänge hängen vor den Fenstern.
Eine alte Frau hockt auf ihrem Rollator. An einem der Handgriffe hängt eine Plastiktasche mit ihrem ganzen Besitz. In ihren knittrigen, aschfahlen Händen, eine Zigarette. Rita hebt die Arme, wiegt sich zur Musik. Immer, wenn die Töne aus der Jukebox verebben, steckt wieder jemand Geld in den Automaten. Als nächstes legt Amy Winehouse los.
An einem Ecktisch sitzt ein Mann mit abgerissener Lederjacke und Melone. Ein Zimmermann der Vergangenheit. Die buschigen Augenbrauen, der weiße Bart und sein Nasenring geben ihm etwas Verschmitztes.
Neben ihm liegt eine kleine Umhängetasche. Sie ist bis an den Rand gefüllt. Er beginnt, darin zu kramen. Dann packt er aus: ein wuchtiges Ladegerät, Kabel, Deo, Tabak sowie mehrere silberne Dosen, gefüllt mit blauen Pillen, eine kleine Mühle, „Zum Mahlen von Haschisch“, und Behälter mit weißem Pulver.
Primus kommt eigentlich aus Otterndorf, in der Nähe von Cuxhaven. Seit mehreren Jahren besucht er Hamburg, und speziell den Elbschlosskeller, regelmäßig.
Er ist inzwischen „Teil der Kiezfamilie geworden“, sagt er. Mit der Familie meint er die Gäste, die hier täglich vorbeischauen oder im Elbschlosskeller Quartier bezogen haben.
Primus hat die letzten zwei Nächte durchgefeiert. Auch heute will er wieder länger wach bleiben.
Der 63-Jährige wurde vor einigen Jahren wegen Drogenhandels zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt. Schuld daran, sagt er, sei seine Ex. Sie habe ihn verraten. An einem Abend wurde er von einem Sondereinsatzkommando der Polizei überwältigt und anschließend sein Haus durchsucht. Man fand mehrere Gramm Haschisch und Speed. Den Spitznamen Primus hat er weg, seit er als Jugendlicher im Geschichtsunterricht mit dem Wissen des Lehrers wetteiferte.
Rita ist aufgestanden und schwingt um die Pole-Stange mitten im Raum. „Mir gefällt, dass im Elbschlosskeller Menschen aus allen Schichten zusammenkommen und miteinander reden“, sagt Primus.
Das trifft auch auf den „Goldenen Handschuh“, die Kneipe auf der anderen Straßenseite, zu. Berühmt wurde sie durch den Frauenkiller Fritz Honka. Der Nachtwächter suchte sich seine Opfer in den 70er Jahren in den Bars auf St. Pauli. Und besonders oft saß er im Goldenen Handschuh. Seine Opfer waren Gelegenheitsprostituierte, die er in seine Wohnung lockte und dort ermordete.
„Das waren Frauen, die keiner vermisst hat. Sie waren einfach weg. Das ist das Dramatische. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Keiner würde so einen Vorfall der Polizei melden“, sagt Primus. Menschen gehen auf den Schwutsch, suchen Kontakt. Ein Gespräch mit einem Unbekannten in der Bar. Man findet sich sympathisch und geht mit. Vielleicht zum letzten Mal.

Primus nestelt ein kurzes Röhrchen aus Pappe aus seiner Tasche. Dann öffnet er eine Dose und zieht sich das Pulver in die Nase. Er trinke seit 28 Jahren keinen Alkohol mehr, sagt er. „Das Böse ist immer und überall“, dringt es mit niedlich-österreichischem Akzent aus den Boxen.
Auch bei LSD ist Primus vorsichtig. „Du brauchst `nen Trip-Sitter, einen Begleiter, der Dich bei Bedarf wieder runterholt. Damit Du keine Scheiße baust.“ Jemand schiebt ihm einen Zehn-Euro-Schein rüber. Im Tausch bekommt der Kunde ein Stück Haschisch. Als wäre es die normalste Sache der Welt.
Eine Gruppe junger Leute steigt die Stufen in den Keller hinab. Sie stehen unentschlossen zusammengedrängt in der Mitte des Raumes. Dann sortieren sie sich um die Bar, trinken ein Bier und verschwinden wieder. Wer zum Etablissement gehört, so wie Linda, Chrischan und Ling Ling, wechselt nur kurz die Straßenseite und kommt bald darauf zurück. Das unterscheidet sie von den Touristen.
Den Gang auf die Toilette verkneifen sich die meisten Gäste. Es gibt keine Türschlösser in den Kabinen und Klopapier nur auf Nachfrage am Tresen. „Am Wochenende steht die Pisse so hoch, dass Du ohne Freischwimmer nicht mehr reinkommst“, sagt Primus.
In einem fast leeren Hinterzimmer hängen Fotos aus alten Zeiten. Auf den über Eck gebauten Holzbänken liegen zwei Männer unter Wolldecken. Neben ihnen vier schwarze Restmülltonnen.

In der Bar geht die Party weiter. Ein junges Paar hat im Reiseführer gelesen, dass der Inhaber des Elbschlosskellers, Daniel Schmidt, während der Pandemie den Obdachlosen etwas Warmes zu essen angeboten hat und einige in der Kneipe ihren Schlafplatz haben. Die beiden arbeiten im sozialen Bereich und finden seinen Ansatz gut. Den Goldenen Handschuh wollen sie nicht besuchen. „Das fänden wir aufgrund der Honka-Geschichte makaber“, erklärt sie.
Tatsächlich ist auch im Goldenen Handschuh einiges los. „Ficken und Lecken je 2,50 Euro“, grüßt das Schild im Fenster. So ein Flirt mit dem Verruchten, das befreit.
Eine Clique ist extra aus dem holsteinischen Husum angereist, um auf den Geburtstag anzustoßen. Sie wissen, dass der Serienkiller Stammgast war. Der Laden ist voll. Vor allem jüngere Leute sind unter den Gästen und amüsieren sich. Die Gruppe der Feiernden will heute Abend hierbleiben. Der Elbschlosskeller, sagen sie, sei ihnen zu kriminell.