Bei Märschen geht es nicht um Schnelligkeit – keine fliegenden Beine, keine athletische Leichtigkeit, wie sie bei den besten Läufern eines Marathons auch noch auf den letzten Metern zu zu sehen ist.
Bei Märschen werden 25, 50, 100 oder mehr Kilometer zurückgelegt. Zeit ist Nebensache. Statt Platzierungen bekommt jeder, der das Ziel erreicht, eine Medaille.
Am letzten Wochenende im Oktober fand in Butjadingen der erste „WeserMarsch“ statt. Die Teilnehmer konnten zwischen 37 und 65 Kilometern wählen. Das Event war mit 750 Teilnehmern aus ganz Deutschland ausgebucht, dann gab es krankheitsbedingte Absagen. Letztlich gingen 625 Personen an den Start.
Der Deutsche Wetterdienst hatte die Lage am Freitagabend für die gesamte Nordseeküste als „markant“ bezeichnet. Sturmtief Joshua überzog die Region mit Orkanböen. In Burhave setzte es die Promenade unter Wasser. Die ersten Läufer waren bereits um 6.30 Uhr in die Dunkelheit gestartet.
Vor dem Atrium in Burhave steht eine weitere Gruppe. Es ist windig aber trocken. Man wünscht sich Glück, fragt, ob genug Bananen im Rucksack sind. Die Frucht dient als schnelle Energiequelle bei hoher Belastung.
Der Bürgermeister von Butjadingen, Axel Linneweber, warnt, dass auf den Wegen entlang der Uferkante mit glitschigem Boden zu rechnen ist. Der Abschnitt über den Langwarder Groden, unbefestigte Wege und Holzbohlen, kann alternativ auf dem Aspahlt am Deich zurückgelegt werden. Grüne Markierungen am Boden stehen für die kurze, blaue für die lange Streckenvariante. Zusätzlich hat jeder Teilnehmer den GPS-Track bekommen. Linneweber gibt den Countdown: Fünf, vier, drei, zwei, eins…
Eine Gruppe in Funktionskleidung – schnell trocknend – setzt sich in Bewegung. Am kleinen Rucksack eines Mannes baumeln Finisher-Bändern wie bunte Spaghetti – Trophäen vergangener Märsche. Eine Frau hat eine kleines Mammut an ihr Gepäck geschnallt. Was wie ein Kuscheltier aussieht, verweist auf die Organsiation „Mammutmarsch“. 2013 wurde die von zwei Männer im Ruhrgebiet gegründet.

Die erste Hälfte des Weges führt entlang des Wassers. Die Schar strömt durch das hölzerne Fluttor hinein nach Fedderwardersiel, weiter ins Deichvorland. Im Pulk bewegen sich die Köpfe auf und ab. Sie wogen wie Bälle auf der Wasseroberfläche, vorwärts. Heike ist zum ersten Mal bei einem Marsch dabei. Sei sagt, sie will gucken, wie weit sie kommt. Ein Mann gibt ihr den Tipp: Geh dein eigenes Tempo.
Der Wind bläst nun mit aller Kraft von vorn. Erst nieselt es, dann wird der Vorhang dichter, sind das Hagelkörner auf dem Boden? Regencapes und Jacken werden hektisch ausgepackt und übergestülpt.
Eine Unterhaltung ist sinnlos. Jeder geht allein, will diese Phase durchstehen, fragt sich, was um Himmels Willen ihn am Morgen aus dem Bett getrieben hat, um hier heute aufzuschlagen. Die Capes flattern, langsam aber unaufhaltsam durchweicht die Schutzschicht der einfachen Jacken.
In Tossens sind 13 Kilometer geschafft. Der Campingplatz am Wasser ist leergefegt. Aber die Toiletten sind geöffnet und unter einem provisorischen Dach gibt es Proviant: Bananen, Wasser und Kuchen. Heike will weiter. Sie spürt ihren Rücken. Wer lange steht, kühlt aus. In den Schuhen schwappt das Wasser. Das wird sich nicht mehr ändern.
Auf der Straße hinter dem Deich ist es windgeschützter, der Himmel nur noch grau. Beschlagene Brillengläser, schnupfen in Taschentücher. Ein Mann schimpft, er sei bis auf die Unterhose nass, sein Akku leer.
Zwei Regencapes – Geschlechter sind in der Kleidung nicht erkennbar- schlagen sich auf eine Wiese. Eine Person zieht sich unter dem Cape die Hose herunter und geht in die Hocke, eine Frau also.

Drei Spaziergänger kommen den Wanderern entgegen. Einer hält ein Schild hoch: „Jetzt umdrehen wäre auch bedeppert“, steht darauf. Fünf Frauen drehen ein Selfie-Video. „Angekommen!“, trällern sie im Chor in die Kamera. Sie haben keinen Bock mehr, sagen sie. Etwa die Hälfte des Weges ist geschafft.
In einer Hütte am Wegesrand sitzen ein Vater und sein Sohn. Der Ältere hat die Schuhe ausgezogen und verarztet seine geschundenen Füße. Sind Schuhe und Socken nass, besteht immer die Gefahr, dass die Haut aufweicht, die Reibung zu Blasen führt, im schlimmsten Fall die Wanderung abgebrochen werden muss. Die Hütte fungiert als Erste-Hilfe-Station.
Ein weiterer Stopp am Melkhus in Seeverns, mit Tischen und Stühlen im Innern, fast ein kleines Wirtshaus. Auf der Ablage stehen Unmengen an Kaffeekannen, Äpfel gibt es gratis und kleine Dessertschalen – Joghurt mit Kompott können für umme genoßen werden. Jeder will rein, einen Moment verschnaufen, ein heißes Getränk und hoffentlich nicht übermannt werden von dem starken Wunsch einfach sitzenzubleiben. Schließlich kommt hier auch der Bürger-Bus vorbei. Man könnte bequem aussteigen aus der Tortur. Doch das tut keiner.


Der Himmel klarrt auf, es ist sogar kurzzeitig sonnig, am Horizont der Rest eines Regenbogens. Wird schon gehen. Die Erlösung kommt mit dem Straßenschild: Burhave, fünf Kilometer.
Das Tempo wird bedächtiger, jetzt noch jemanden zu Überholen, das würde fast überfordern. Besser ist es, sich mitziehen zu lassen, wie der Wagon einer endlosen Lok.
Vorne eine Gruppe, einer lahmt. Er will es noch bis ins Ziel schaffen, sagt er, dann nur noch nach Hause.
Am Atrium wartet kein Empfangskommitee, kein Applaus und keine Trillerpfeifen, nein, aber direkt vor der Eingangstür – der Kaffeeduft drängt sich entgegen – wird jedem Läufer die Medaille um den Hals gelegt, das Finisher-Armband und einen Chip für ein Getränk gibt es dazu. 478 von 492 der 37-Kilometer Wanderer erreichen das Ziel. Für die 65 Kilometer gingen 133 an den Start, 95 kommen an.
Christian hatte sich für die Langstrecke angemeldet. Aber das Wetter war „zu grausam“, mittendrin entschied er sich um. Kerstin und Sonja stoßen mit einem Schnäpschen auf ihre Leistung an. Bald wimmelt es von Medaillen. Das kecke Schaf mit dem Rucksack lächelt sanft. Jan Garbe, der Organisator des Events, plant für 2027 den nächsten WeserMarsch. Heike trinkt noch einen Kaffee, dann verabschiedet sie sich. Zu Hause wartet ihr Hund. Mit dem muss sie noch eine Runde Gassi gehen.
