Die Möglichkeit, sich durch Bildung eine gute Grundlage für die Zukunft zu schaffen, ist in Deutschland für viele Menschen selbstverständlich. In Indien haben 50 Prozent der Menschen von Geburt an Pech. Sie sind Mädchen und gelten als wertlos.
„Es passiert nicht selten, dass das ungeborene Kind, wenn es weiblich ist, abgetrieben wird“, sagt Dagmar Strauß. Die Stollhammer Zahnärztin und ihr Mann flogen zwischen 2003 und 2019 mindestens einmal im Jahr auf den Subkontinent. Sie nutzten ihre Urlaubszeit, um für Zahnärzte ohne Grenzen viele kleine Patienten in den Kinderdörfern zu behandeln. Drei indische Mädchen gehören seit 15 Jahren zur Familie. Saras, Devi und Durga nennen Dagmar ihre Oma und Ingolf Strauß ihren Opa.
Beginn einer lebenslangen Verbindung über Kontinente hinweg
2010 ist das deutsche Paar das erste Mal im Gasthaus des Kinderdorfes in der südindischen Stadt Coonoor untergebracht. Die Nepalesin Sarita gehört zum Personal, sie ist in der Küche und im Service tätig. Ihre Familie ist arm. Stolz erzählt Sarita den beiden von ihren Mädchen. Saras (14), Devi (11) und Durga (8) zählen zu den besten in der Schule.
Und hier beginnt eine Entwicklung, die das Leben zweier Familien verbindet und nachhaltig verändert. Die Strauß erfahren, dass Sarita mit 14 Jahren verheiratet wurde und ihr erstes Kind bekam. Ihr Mann Thalak ist damals doppelt so alt wie sie. In Indien sind arrangierte Hochzeiten nichts Ungewöhnliches.
Sie besuchen Sarita zu Hause. Ihre Hütte ist einfach – braune Wände, eine Kochnische, Wasser aus dem Brunnen. Zum Schlafen legt sich die Familie nebeneinander auf Matten, Möbel gibt es kaum. Die Töchter erledigen ihre Hausaufgaben sitzend auf dem Boden. Der Ranzen dient als Unterlage. Dagmar und Ingolf Strauß kaufen ihnen einen Tisch und ein paar Stühle.

Sie sind beeindruckt von dem Willen der Kinder, zu lernen und beschließen, die Familie zu unterstützen. Devi ist 14 Jahre, da wird bei ihr Nebennierenkrebs diagnostiziert. Ohne Geld, gibt es keine Hilfe. Zusammen mit einer zahnärztlichen Freundin in Indien organisiert das Paar von Deutschland aus den Transport des Mädchens in ein renommiertes Krankenhaus. Zwei Tage dauert die Autofahrt dorthin. Noch kurz vor der Operation muss die Familie Geld für das Narkosemittel auf den Tisch legen.
Drei Töchter machen Karriere
Heute studiert Devi im siebten Semester Medizin in Georgien. Nebenbei arbeitet sie stundenweise in einer Klinik. Es war nie einfach. Sie begann ihr Studium in der Ukraine. Dann brach der Krieg aus, sie musste zurück nach Indien. Als sich abzeichnete, dass eine Rückkehr in das Land nicht möglich sein würde, zog sie nach Georgien.
In einer aktuellen Mail schreibt Devi: „Trotz des Drucks ist mein Wunsch, Ärztin zu werden, ungebrochen. Der Weg ist anspruchsvoll, aber er wird von Hoffnung, Entschlossenheit und einem tiefen Sinn für meine Aufgabe getragen. Für diesen Weg waren mein Opa und meine Oma, die zu den stärksten Stützen unseres Lebens gehören, sehr wichtig.“
Saras lebt in Dubai. Sie hat eine gute Anstellung als Krankenschwester und bildet selbst aus. Ihren Mann hat sie aus Liebe geheiratet. Dagmar und Ingolf Strauß finanzierten ihre Ausbildung und trugen auch viele der Kosten darüber hinaus. „Es dauerte lange, bis Saras eigenes Geld bekam. Nach der Ausbildung musste sie zwei weitere Jahre unentgeltlich im Krankenhaus arbeiten, sonst hätte sie kein Zertifikat bekommen. Das ist in Indien üblich und für Familien aus den unteren Schichten, kaum zu bewältigen“, sagt der Stollhammer.
Warmes Wasser – ein selbstverständlicher Luxus für uns
Durga studierte Ingenieurswesen und arbeitet in der IT-Branche im indischen Pune. Ursprünglich wollte sie zur Armee. Bei einem Aufnahmetest wurde sie knapp durch eine Konkurrentin geschlagen. Den Hang zum Kämpfen hat sie von Ingolf Strauß. Der 66-Jährige gibt seit 2001 Selbstverteidigungskurse, davon profitierten die Mädchen.

In Indien sind Übergriffe auf Frauen an der Tagesordnung. Die Drei haben immer einen Kugelschreiber dabei. Wenn sie im Bus belästigt werden würden, wissen sie sich zu wehren. „Wir haben die kleinen Pflänzchen nur gegossen. Sie haben sich von allein weiterentwickelt“, fasst seine Frau zusammen.
Und Sarita? Sie kommt 2018 zu Besuch nach Stollhamm. Der für uns selbstverständliche Luxus innerhalb eines Wohnhauses ist ein Schock. „Sie stand in der Küche an der Spüle und konnte kaum fassen, dass wir immer warmes Wasser haben“, sagt Dagmar Strauß.
Auch die freie Zeit ist für Sarita ungewohnt – zu Hause in Indien sind ihre Tage mit zahlreichen Aufgaben gefüllt. Im Alter kümmert sich traditionell der älteste Sohn, beziehungsweise dessen Frau, um seine Eltern. Durch die Kraft und Karrieren ihrer drei Töchter haben auch Sarita und Thalak nun die Chance auf ein würdevolles Leben.