Folge Deinen Träumen. Ein Satz, den ein Vater seiner Tochter mit auf den Weg gibt. Sie zieht von Afrika in die Ukraine, um zu studieren. Dann beginnt der Krieg. Doch die junge Frau hat einen starken Willen und nutzt ihn, um ihr Leben zu gestalten.
Michelle Nkoa Mensah kommt aus Accra, der Hauptstadt von Ghana. Sie studiert in der Ukraine Medizin. Als der Krieg ausbricht, flieht sie nach Deutschland und bleibt. Bis zum Sommer absolviert sie in der Helios Klinik in Nordenham ein Freiwilliges Soziales Jahr. Für eine 23-Jährige ist das eine Menge Lebenserfahrung in kürzester Zeit. Warum entschied sie sich zu diesen Schritten?
Flucht aus der Ukraine
Schon als Kind hatte Michelle Nkoa Mensah den Wunsch, Ärztin zu werden. „Es liegt mir am Herzen, dazu beizutragen, dass ein Mensch wieder gesund wird“, sagt sie. Als sie 2018 von der Möglichkeit erfährt, über ein Stipendium der ghanaischen Regierung im Ausland Medizin zu studieren, bewirbt sie sich. Sie besteht alle Prüfungen und bekommt einen Studienplatz an der Nationalen Universität Donezk in der Ukraine. Dort findet der Unterricht auf Englisch statt. Dann greift Putin das Land an. Michelle Nkoa Mensah flieht in einem überfüllten Bus nach Deutschland. Drei Tage dauert die Fahrt.
Das Stipendium ist verloren
Ihre erste Station ist Bramsche. Sie wird für eine Woche in einem Flüchtlingscamp untergebracht, dann kommt sie in die Wesermarsch. Nach einem Jahr in Brake organisiert das Jugendamt die Unterbringung in einer Pflegefamilie in Nordenham. Das Stipendium ist verloren. „Diese Zeit war anstrengend. Aber man muss weiterleben. Das ist immer in meinem Kopf. Ich musste einen neuen Plan machen“, sagt die Ghanaerin.
Viele Menschen hätten nach diesen Hürden aufgegeben und würden mit dem Gedanken an die Rückkehr ins eigene Land spielen. Aber für Michelle Nkoa Mensah ist das keine Option. „Wenn ich zurückgehe nach Ghana, kann ich nicht studieren. Die Universitäten in meinem Land sind sehr teuer. Meine Eltern können das nicht bezahlen. In Deutschland gibt es mehr Chancen für mich, mein Ziel zu erreichen“, sagt sie.
Aber so einfach ist es nicht. Zwar ist es theoretisch in Deutschland möglich, das Medizinstudium auf Englisch fortzusetzen, aber auch das kostet viel Geld. Um einen regulären Studienplatz zu bekommen, muss sie das Sprachniveau C1 für Deutsch nachweisen. Das entspricht fast dem Niveau eines Muttersprachlers. Michelle Nkoa Mensahs Sprachkenntnisse liegen eine Stufe darunter. Die Sprache wäre also nicht das Problem, gäbe es nicht viele weitere Studenten, die auf den Wartelisten der Universitäten für einen Medizinstudienplatz stehen.
Bis ein Platz frei wird, kann es lange dauern. Bald beginnt die dreijährige AusbildungIn dieser Situation schlägt ihr eine Sozialarbeiterin des Refugium Wesermarsch vor, die Zeit mit einem Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) an der Helios Klinik zu überbrücken. Michelle Nkoa Mensah arbeitet seit dem vergangenen Jahr in der Notaufnahme. Sie schreibt EKGs, erhebt Vitalparameter und dokumentiert die Versorgungsmaßnahmen der Krankenschwestern.
Manuela Denker, stellvertretende Leiterin der zentralen Notaufnahme, sagt: „Michelle passt sehr gut ins Team. Sie kann beim FSJ morgens zum Sprachkurs gehen und nachmittags in der Klinik arbeiten. Ärzte, die in der Pflege gearbeitet haben, bekommen außerdem einen anderen Blick auf die Abläufe in einer Klinik. Es ist ein gutes Sprungbrett.“
Das FSJ läuft zum Sommer aus. Für die junge Frau schließt sich eine dreijährige Ausbildung zur Pflegefachfrau in der Helios Klinik an. Die Theorie der Ausbildung umfasst unter anderen Anatomie, Medikamente und palliative Versorgung. Nach der Ausbildung hat sie die Möglichkeit, übernommen zu werden oder mit Glück ihr Studium fortzusetzen.
Bräuche, Bier und Oktoberfest
Michelle Nkoa Mensah möchte in Deutschland bleiben. Sie sagt: „Ich bin die einzige Tochter meiner Familie. Mein Vater fand es immer wichtig, dass ich zur Schule gehe, einen Job finde und Träume habe. Themen wie Heirat, Kinder bekommen oder den Haushalt führen, waren nicht wichtig“.
Halt im fremden Land gibt ihr der Kontakt zur Gemeinde der evangelisch-lutherischen Thomas Kirche in Oldenburg. Zudem liebt sie Bier und das Oktoberfest. Und wie erlebt sie die Norddeutschen? „Sie machen nicht so viel Small Talk. Bei uns in Ghana wird gern über das Wetter gesprochen. Und viele Bräuche sind anders. Zu Weihnachten gehen wir nur in die Kirche und essen danach gemeinsam. Einen Weihnachtsbaum gibt es nicht. Zu Ostern hat meine Pflegemutter Ostereier versteckt, die ich suchen musste. Das sind Dinge, die mir gefallen.“
Wenn es mit dem Medizinstudium weitergeht, kann sich Michelle Nkoa Mensah vorstellen, die Richtung Chirurgie einzuschlagen. Aber noch ist alles offen.